Anmerkungen
Dieser Artikel erschien zu erst am 23. Mai 2018 auf Türkisch im sozialistischen Onlinemagazin abstrakt.
Er wurde für das re:volt magazine ins Deutsche übersetzt von Max Zirngast und leicht verändert.
Überzetzung: Max Zirngast
Der Hauptindikator des immensen Drucks auf die türkische Wirtschaft ist der Wertverlust der Türkischen Lira (TL) gegenüber dem US-Dollar. Seit Jahresbeginn 2018 hat die TL mehr als 25 Prozent gegenüber dem US-Dollar eingebüßt; vor allem in den letzten Wochen kam es zu einem veritablen Sturzflug ihres Wertes. Abgesehen von denen, die behaupten, jemand hätte„von außen das Kommando gegeben“ und anderen, die nicht über den Horizont der alltäglichen Bewegungen der Geldmärkte hinaussehen, war man sich des nahenden ökonomischen Zusammenbruchs allgemein bewusst. Fragen nach der Bewertung der Krise werden unterschiedlich beantwortet. Viele Kommentator_innen und Politiker_innen machen eine falsche Politik der Regierung für die anstehende Krise verantwortlich. Sie kritisieren besonders die Tatsache, dass die Zentralbank nicht unabhängig sei und aufgrund des politischen Drucks die Zinsen nicht angehoben hatte.
In diesem Text möchte ich mich der Ideologie dahinter widmen. Diese besagt, dass die Zentralbank (und ihre Geldpolitik) als Institution autonom und ihre Entscheidungen von Politiker_innen unabhängig sein müsse. In der zeitgenössischen Wirtschaftstheorie wird uns dies als „goldene Regel“, als unhinterfragbares Credo kredenzt. Haben wir es also tatsächlich mit einem „wahren“, durch Erfahrung als ewig und wissenschaftlich belegten Grundsatz zu tun?
Was macht eigentlich eine „unabhängige“ Zentralbanken so?
Die Aufgaben und Befugnissen der Zentralbank sind durch das Gesetz bestimmt. Wie in vielen anderen Ländern auch, so gilt für die Zentralbank der Republik Türkei, dass „ihr grundlegendes Ziel ist, Preisniveaustabilität zu garantieren. Die Bank bestimmt selbst die Geldpolitik und die Mittel der Geldpolitik, um die Preisniveaustabilität zu garantieren.“ (Gesetz über die Zentralbank der Türkischen Republik, Art. 4)
Mit Preisniveaustabilität ist vor allem die Inflationsbekämpfung gemeint. Das heißt, dass im allgemeinen das Preisniveau unter Kontrolle gehalten wird. Demgemäß akzeptieren heutzutage viele Zentralbanken einen Ziel- und Mittelrahmen entsprechend des zuvor definierten Inflationsziels. Das heißt, vereinfacht ausgedrückt: Zunächst wird ein Inflationsziel bestimmt und der Öffentlichkeit mitgeteilt und dann mit entsprechenden politischen Mitteln in den Markt interveniert, um am Ende des Jahres das angegebene Ziel zu erreichen. So gewinnen nationale Märkte eine berechenbarere Qualität und werden damit für Investor_innen attraktiver.
Die Zentralbank der Republik Türkei bestimmt jedes Jahr ein Inflationsziel von 5 Prozent, um dann konsequent jedes Jahr das Ziel zu verfehlen und somit in Sachen Vertrauenswürdigkeit stets durchzurasseln. Viele Kommentator_innen sind sich darin einig, dass diese, nationale und internationale Investor_innen beunruhigende Unsicherheit eines der größten Probleme der Wirtschaft der Türkei ist. Die Bedürfnisse der Investor_innen, also des Finanzkapitals, werden so mit den Bedürfnissen „der Wirtschaft im allgemeinen“ gleichgesetzt und die Aufgaben der Wirtschaftspolitik dementsprechend bestimmt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, worauf diese Mechanismen gründen.
Vom Ziel der Vollbeschäftigung zur „Unabhängigkeit der Zentralbank“
Angesichts des rasanten Wachstums und der Vollbeschäftigung innerhalb des sozialistischen Blocks setzten die Länder des kapitalistischen Zentrums in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg alle Hebel in Bewegung, um mit den Mitteln der Finanz- und Geldpolitik den Beschäftigungsgrad ebenfalls anzuheben, das Wachstum anzukurbeln und konjunkturelle Schwankungen zu unterdrücken. Diese Politik – genauso wie die anderen Aspekte, die unter der Rubrik „Wohlfahrtsstaat“ zusammengefasst werden können – geriet Ende der 1970er in die Krise. Der stetig steigende Beschäftigungsgrad nahm der Kapitalist_innenklasse nämlich gleichzeitig die Möglichkeit aus der Hand, die Arbeiter_innenklasse mit der permanenten Drohung der Arbeitslosigkeit zu disziplinieren. Steigende Reallöhne und steigendes Gesamteinkommen führten zu einer wachsenden Gesamtnachfrage, während Investitionen aufgrund fallender Profitraten abnahmen und somit das Gesamtangebot mit der Gesamtnachfrage nicht mehr mithalten konnte. Diese gegenläufige Entwicklung von Angebot und Nachfrage führte zu Inflation, die abnehmenden Investitionen zu einer Stagnation der Wirtschaft und somit entstand die als Stagflation (Stagnation des Wachstums, Inflation der Preise) bezeichnete krisenhafte Situation dieser Zeit.
Als die kapitalistische Produktion derart an die Grenzen der Kapitalakkumulation stieß, reagierten die herrschenden Klassen aggressiv. Die ökonomische Theorie und Politik veränderten sich: Gemäß des neuen Status Quo musste sich der Staat von seiner einflussreichen Position gegenüber dem Markt abwenden und damit aufhören, sich auf die Herstellung von Vollbeschäftigung zu konzentrieren. Die Effizienz sollte, so die Behauptung, mit der Ausweitung des Marktes gegenüber dem öffentlichen Sektor steigen. Das wirkliche Ziel war jedoch, die Arbeitslosenrate wieder auf – ein vom Standpunkt des Kapitals – „gesundes Niveau“ anzuheben. Dieses Ziel wurde auch schnell erreicht. Andererseits eröffneten sich mit dem Rückzug des Staates aus Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Wohnungsbau neue und profitable Bereiche für das Kapital. Mit diesen Änderungen wurde jedoch nicht, wie von neoliberaler Ideologie behauptet, der Lebensstandard allgemein angehoben: Arbeiter_innen und Angestellte wurden rapide enteignet und entrechtet und versanken in einem Schuldensumpf.
Hinsichtlich der Geldpolitik, die in der Periode nach dem Krieg Beschäftigung und Wachstum unterstützen sollte, ereignete sich eine ähnliche Transformation: Der Kampf gegen Inflation wurde in Sachen Geldpolitik als sakrosankt erklärt. Dementsprechend wurde es per Gesetz zur zentralen Aufgabe der Zentralbanken erklärt, die Preisniveaustabilität zu garantieren. Und Tada! Plötzlich wurden die Zentralbanken mit dem Adjektiv „unabhängig“ versehen.
Dass die Inflation als Ursache allen Übels identifiziert und ins Zentrum der Geldpolitik gerückt wurde, war sicherlich nicht alleine der Hyperinflation in Deutschland in den 1920ern und deren wirtschaftlichen und politischen Folgen in den nachfolgenden Jahrzehnten geschuldet. Vielmehr gab es handfeste kapitalistische Interessen für diese Verschiebung. Erstens musste das Band zwischen Geldpolitik und Beschäftigung gekappt und somit ein Anstieg der Arbeitslosigkeit und Druck auf die Löhne herbeigeführt werden. Zweitens gefährdete die in den 1970ern emporschnellende Inflation nicht in erster Linie die öffentlich abgesicherten Arbeiter_innen, sondern die privilegierten Klassen mit fixem oder variablem nominellen Einkommen, die finanzielles Vermögen (Finanzanlagen, Wertpapiere) besaßen. Drittens wurden angesichts der sinkenden Profitraten Finanzinvestitionen attraktiv. Dafür aber mussten die reellen Zinsraten hoch sein, das heißt die nominellen Zinsraten mussten hoch und/oder die Inflation niedrig sein.
In diesem Zusammenhang wurde die Geldpolitik aus einem Klassenimpetus heraus demokratischer Kontrolle entzogen und gemäß den Interessen der Kapitalist_innenklasse neu bestimmt.
Es entspricht dem Geist unserer von hochtrabenden Begriffen wie Transparenz, Governance etc. geprägten Zeit, eine Zentralbank als „unabhängig“ oder gar „autonom“ zu bezeichnen, die Gesetzen folgt, deren Inhalt eindeutig von Klasseninteressen geleitet ist. Die wirkliche Bedeutung der Unabhängigkeit der Zentralbank ist ihre Loslösung von der Kontrolle von nationalen Regierungen und ihre Anbindung an das internationale Finanzkapital. Auf diese Weise wurden auch „Populismen“ von Regierungen mit Blick auf Wähler_innengunst unterbunden, denn, so das Argument, wäre die Geldpolitik unter der Kontrolle der Regierung, würde sie vor jeder Wahl Geld drucken oder die Zinsen drücken, um Stimmen zu gewinnen. Mit einem Federstrich wurden so klientelistische und von Korruption angeleitete Eingriffe wie sie die AKP und Erdoğan praktizieren, aber auch popular-demokratische Interventionen verhindert.
Kapitalistische Restauration oder revolutionär-demokratische Offensive
Während sich die türkische Wirtschaft rasant auf den Abgrund hinbewegt, finden sich in den Analysen zu den Verantwortlichen der Krise und den möglichen Auswegen entscheidende Klassenunterschiede. Unter den Lösungsvorschlägen, die wir in diesen Tagen besonders häufig zu hören bekommen, finden sich Vorschläge wie „Bekämpfung der Korrumpierung der Institutionen“, „Aufhebung des Ausnahmezustandes“, „Rückkehr zur Normalität“, „die Befreiung der Zentralbank aus den Fängen des Palastes und die Reetablierung ihrer Unabhängigkeit“, „das sofortige Anheben der Zinsen, damit die Wirtschaft Luft holen kann“ und dergleichen. Abgesehen von der Aufhebung des Ausnahmezustandes als legitimer demokratischer Forderung sind alle anderen Vorschlägen nicht nur unzulänglich, sondern können unmöglich Teil eines linken Programms sein. Am ehesten führen solche Vorschläge auf direktem Weg zu einem klassischen Programm des IMF (International Monetary Fund).
Was findet gleichzeitig auf politökonomischer Ebene statt? Die AKP interveniert in die Aktivitäten der Zentralbank, um die bestehende Rentier-Ökonomie zu stabilisieren, eine oligarchische Gruppe weiter zu bereichern und den Bausektor zu stärken. Diese Politik wird selbstverständlich auch von Sozialist_innen kritisiert. Aber ein jeglicher Eingriff von links in die Wirtschaft muss vom Standpunkt der Wiederherstellung einer produktiven Wirtschaft ebenso in die Geldpolitik der Zentralbank intervenieren. So findet sich zum Beispiel im Wahlmanifest der HDP zur Wahl am 7. Juni 2015 folgender Satz hierzu: „Die Priorität in unserer Geldpolitik liegt auf dem Aufbau einer Ökonomie im Sinne der Arbeit und dem Ziel, mehr Arbeitsplätze zu schaffen.“
Bei der letzten schweren Wirtschaftskrise der Türkei in den Jahren 2000-2001 eilten – auf Bitten der Sozialdemokrat_innen – der Technokrat und frühere Vize-Präsident der Weltbank Kemal Derviş und mit ihm der IMF zu Hilfe. Mit dem sogenannten „Programm des Übergangs zu einer starken Ökonomie“ (TSEP) ließen sie einerseits die Arbeiter_innen die Rechnung der Krise bezahlen und garantierten andererseits die gründliche Verwurzelung des Neoliberalismus in der Türkei. Die drei Hauptelemente des Programms waren: 1) Austeritätspolitik und fiskalische Disziplin; 2) Ausweitung der Befugnisse einer der Preisniveaustabilität verpflichteten und kontraktive Geldpolitik anwendenden unabhängigen (!) Zentralbank; 3) wichtige Privatisierungen, Verringerung der Beschäftigungsrate im öffentlichen Sektor und öffentlicher Ausgaben und die Anpassung der Finanzmärkte an internationale Standards. Strukturreformen mit diesen und ähnlichen Maßnahmen repräsentieren die Verankerung der sich seit den 1980ern verändernden Wirtschaftspolitik der kapitalistischen Zentren in der Türkei.
Die Anwendung dieses Programms in den letzten 17 Jahren – und das entspricht mehr oder minder der Regierungsperiode der AKP – brachten den arbeitenden Menschen unter dem Deckmantel der „Flexibilisierung“ nur mehr Unsicherheit. Selbst in den Jahren des größten Wirtschaftswachstums waren Millionen zu Arbeitslosigkeit verdammt und diese Menschen wurden immer tiefer in den Schuldensumpf genötigt, um für ihre Gesundheit, Bildung und grundlegenden Bedürfnisse aufkommen zu können. Mit dem Versprechen auf mehr Effizienz wurden Marktlogiken rasch ausgedehnt, was zu längeren Arbeitszeiten und „flexibleren“ Arbeitsbedingungen für die Arbeitenden führte. Die Folge davon waren jährlich zwischen 1500 und 2000 vom Kapital verursachte tödliche Arbeits„unfälle“.
Nun ist das Akkumulationsmodell der letzten 17 Jahre an seine Grenzen gestoßen. Unter dem Banner der „Unabhängigkeit der Zentralbank“, good governance und weiteren schillernden Begriffen unternehmen die Kräfte des Status Quo den Versuch, mit einer erneuten arbeiter_innenfeindlichen Transformation der Akkumulationsstruktur einen Restaurationsprozess kapitalistischer Macht einzuleiten.
Es ist nicht allzu schwer, aus diesem Teufelskreislaus auszubrechen: Es gilt Nein zu sagen zur Ordnung des Kapitals, die die Finanz- und Geldpolitik immer weiter demokratischer Kontrolle und Überprüfbarkeit entzieht und den Klasseninhalt ihrer oktroyierten technokratischen Wirtschaftspolitik mit aufgedonnerten Begriffen wie „Governance“ und „Transparenz“ zu verschleiern versucht. Weiters gilt es, für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als gesellschaftliches Eigentum zu kämpfen.
Während sich die Risse innerhalb der herrschenden Klassen vertiefen, hält das Kapital Restaurationspläne in der Hinterhand bereit. Ein eventuell anstehendes IMF-Programm im Stile der CHP-„Linken“ und Ökonomin Selin Sayek Böke verspricht den Arbeiter_innen weder Demokratie noch Wohlfahrt. Schon 2000-2001 haben wir uns an die Schlange geklammert, als wir ins Meer stürzten, wie ein türkisches Sprichwort besagt. Angesichts der Situation, in der wir uns befinden, ist eine Alternative, welche die Entscheidungskraft der Produzent_innen sowie Initiativen gegen Enteignungen und für Vergesellschaftung ins Zentrum rückt, hinsichtlich der anstehenden Neuwahlen und des wahrscheinlich darauffolgenden ökonomischen Kollapses realistischer denn je. Der einzige politische Wille, der diese Alternative ernst nimmt, sind nicht die selbsternannten Wahlbündnisse für das „Volk“ (AKP-MHP-SP) oder die „Nation“ (CHP-SP-IYI-DP), die nur unterschiedliche Fraktionen der Bourgeoisie repräsentieren, sondern eine vereinte demokratische Front der Unterdrückten.